Der rote Mantel, Martinsgeschichte – Festgestaltung

Der rote Mantel

Autor: Christian Braemer

Es war einmal ein alter, reicher Mann, der hatte sein Leben lang nichts anderes getan als Reichtum zu sammeln. So war er geizig bis zur Halskrause. Nie verließ er sein Haus und am Abend ging er in seine Kammer und zählte sein Geld.

Die Menschen in der Stadt aber arbeiteten alle für seinen Reichtum und waren doch selbst so arm, dass man das Knurren ihrer Mägen schon von weitem hören konnte. Weil der Alte nicht nur geizig war, sondern auch griesgrämig, und er keine bunten Farben leiden konnte, mussten alle Menschen in der Stadt schwarze Kleidung tragen. Die armen Leinweber, die die Kleidung weben mussten, blieben aber draußen vor der Stadt, denn die ganz Armen mochte der Reiche nicht in der Stadt dulden.

Gleichwohl war ihm, da er nie ausging, entgangen, dass in seiner Nachbarschaft, in den Schatten seines großen Hauses geduckt, die Hütte eines alten Kesselflickers stand, der lange Zeit umhergezogen war und nun im Alter mit Frau und sieben Kindern hier sein Hüttchen hingestellt hatte. Aus Angst vor dem Zorn des reichen Alten hatten ihm seine Diener von dieser Hütte noch nichts erzählt.

Eines Tages nun fehlte dem Alten beim Zählen seines Geldes ein Cent, und er trat in Gedanken, wohin dieser Cent wohl gekommen war, an das Fenster. Da sah er mit einem Male die kleine verhutzelte armselige Hütte des Kesselflickers. Zornig ergriff er seine große Glocke und klingelte, wie anderswo zu Weihnachten geläutet wird, nach seinen Dienern. Als diese zitternd vor ihm standen, befahl er ihnen, binnen drei Tagen die Leute aus ihrer Hütte zu verjagen und ihr Häuschen an allen vier Enden anzuzünden.

Nun hatte der Alte auch einmal eine Frau und Kinder gehabt, aber die waren ihm davongelaufen, sobald den Kleinsten die eigenen Beine tragen konnten. Ob seine Frau Essen kochte, Kleidung zum hundertsten Mal flickte oder die Wäsche wusch, immer hatte der Alte etwas an ihr herumzumäkeln und hatte – als er jung war – der Spott seine Zunge getragen, so schimpfte er nun über alles so lange, bis seine Frau die Kinder nahm und mit ihnen auf nimmer Wiedersehen verschwand.

Längst waren nun seine Kinder groß geworden und hatten selbst Kinder bekommen, ohne dass der Alte wusste, was aus ihnen geworden war. Nun wollten die Kinder ihren Vater doch einmal besuchen und ihm seine Enkelkinder zeigen, mochten sie vielleicht in ihrer Unschuld das Herz des Alten erweichen. Als ihr Vater sich nun – es war um die Martinszeit – gerade in seiner Kammer befand, klopfte es an das Tor.

Die Diener trauten sich nicht, den Alten beim Geldzählen zu stören, denn das hatte er ihnen bei Strafe verboten und so ließen sie alle herein und deckten den Tisch für sie. Als der Alte herunter kam, erschrak er. Aber er musste eine gute Miene machen. Bei aller Unruhe, die sein schweigsames, aus Angst und Geiz gebautes Haus nun erfüllte, blieb er nicht ohne Stolz über so eine reiche Nachkommenschaft, wenn sie nur nicht gekommen waren, um zu betteln.

Als nun die Kinderschar ihren Großvater, den sie noch nie gesehen hatten, umringten, da war es, als rollten gewaltige Wackersteine durch die Brust des Alten. Dann setzte sich das mutigste seiner Enkelkinder auf seinen Schoß und sagte: „Großvater, erzähl uns eine Geschichte“. Eine Geschichte sollte er erzählen!

Längst hatte der Reichtum und der Geiz die Lippen verkleistert und in seinem Herzen hörte er nichts als das Geklimper der Münzen. Zum erstenmal geriet der Alte in Not. Mühsam versprach er den Kleinen für den anderen Tag eine Geschichte und schützte Müdigkeit vor.

Am anderen Tag wusste er wieder keine Geschichte, und wieder vertröstete er die Kinder auf den anderen Tag. Eine unerklärliche Angst hatte den Alten erfasst. Da fiel ihm am Abend ein, dass sein Vater ihm einst von einem Kästchen unter dem Baum im Garten erzählt hatte. Das hatte sein Vater dort vergraben und ihm eingeschärft, er dürfe dieses Kästchen ausgraben, wenn er einmal in großer Not wäre.

Als nun alle im Bett lagen, schliefen und es draußen schon stockdunkel war, ließ sich der Alte von einem Diener einen Spaten bringen und eilte in den Garten, um nach dem Kästchen zu graben. Bald stieß er mit dem Spaten auf etwas Hartes, und rasch befreite er das Kästchen aus dem Wurzelwerk. Nachdem er es gesäubert hatte von der Erde, schlich er sich damit in seine Kammer und schloss sorgfältig die Tür ab.

Dann öffnet er vorsichtig das Kästchen, ohne zu wissen, was ihn erwartete. Mit spitzen Finger zog er aus dem Kästchen ein zerschlissenes Tuch heraus, das Löcher hatte, an den Rändern ausgefranst war und nur an winzigen Stellen noch seine ehemals rote Farbe verriet. Als er es ganz herausgezogen hatte, warf er noch einen Blick in das Kästchen, aber es war nichts mehr darinnen.

Enttäuscht wollte er den alten Lumpen schon in die Ecke werfen, da sah er, dass es einmal ein Mantel gewesen sein musste, dass er aber irgendwann einmal in der Mitte zerschnitten wurde und nun nur dieser halbe Fetzen übrig geblieben war. „Was soll mir das? Warum hat mir mein Vater diesen Lumpen hinterlassen?!“, rief der Alte unmutig und wollte ihn endgültig in die Ecke werfen, da begann dieser halbe Mantel zu reden.

„Hör zu, Alter, ich will dir meine Geschichte erzählen und warum ich nun als Lumpen vor dir liege. Siehe, einstmals war ich ein schöner, großer, weiter, roter Mantel und ich gehörte einem Soldaten, den ich bei Tag und Nacht wärmte. Wenn die anderen seinen roten Mantel sahen, dann wussten sie, dass sie sich vor ihm verneigen mussten.

Eines Tages nun ritten wir durch die nächtlichen Straßen einer Stadt. Der Wind wehte heftig und bauschte mich prächtig auf, es war kalt und meinem Herrn dauerten die Bettler am Straßenrand. Da ritten wir aus der Stadt heraus. Wir waren eben über eine Brücke geritten, da tauchte ein Bettler aus der Dunkelheit auf und bat meinen Herrn um Hilfe. Martin, so hieß mein Herr, tastete nach seinem Geldbeutel, aber er hatte alles bereits an die Bettler vergeben. Da löste er mich von seinen Schultern, zog sein Schwert und schlug mich mitten entzwei. Meine eine Hälfte warf er dem Bettler zu, in die andere hüllte er sich selbst und schon ritt er rasch davon, kaum dass er noch den Dank des Bettlers hörte.

0h, wie gewaltig schmerzte mich der Schnitt. Sollte ich nun zwei Herren dienen? Der Bettler hüllte sich in mich, aber wie erstaunte ich, als es um mich, in mir ganz hell wurde und ich, ehe ich mich versah, zu einem ganzen großen Himmelsmantel geworden war, denn der Bettler war niemand anderes als Christus, und er nahm mich, um die Bedürftigen in seine Liebe zu hüllen. Mit meiner anderen Hälfte aber diente St. Martin sein Leben lang – auch, als er schon längst Bischof war – den Bedürftigen.“

Hier schwieg der Mantel. Der Alte aber fragte: „Und warum siehst du nun selbst so bedürftig aus …?“ Obwohl er die Antwort schon ahnte und Angst davor hatte, wollte er doch Gewissheit und es selbst vom Mantel hören.

„Weil du“, antwortete der Mantel, „dein Leben lang ein furchtbarer Geizhals gewesen bist. Nicht nur deine Frau und deine Kinder hast du mit deiner Hartherzigkeit aus dem Haus vertrieben. Die ganze Stadt leidet unter deinem Geiz. Und nun vertreibst du auch noch den alten Kesselflicker mit seiner großen Familie, lässt gar sein Haus anzünden, weil du seine Armut nicht ertragen kannst. Du willst nicht, dass die arme Hütte neben deinem reichen Haus einen Schatten auf dein Haus wirft. In dieser Zeit ist aus mir ein Lumpen geworden, und wenn du so fortfährst, werde ich bald zu Staub zerfallen.“

Da war dem Alten, als wenn ein schwerer Ring um sein Herz barst und das Dröhnen erschütterte das Haus, so dass alle erschrocken aus ihren Betten fuhren und dachten es sei ein Erdbeben.

Der Alte aber weinte, weinte zum ersten Mal in seinem Leben. Als die ersten Tränen auf den Mantel fielen, sah der Alte mit Erstaunen durch den Schleicher seiner Tränen, wie sich dort in dem Mantel der Stoff zusammenzog, fest wurde und wieder rot färbte. Aber immer noch hatte der Mantel große Löcher und überall konnte man durch ihn hindurchsehen.

Als der alte Mann aus der Stube hinaus und an sein Fenster trat, sah er, wie seine Diener gerade die Kesselflicker davonjagten und wie die Hütte schon an vier Ecken brannte. Da lief der Alte so schnell ihn seine Füße tragen konnten hinunter auf die Straße, gebot seinen Dienern Einhalt und ließ die Kesselflickerfamilie zurückholen.

Er lud sie in sein Haus ein, fiel vor ihnen auf die Knie, bat sie um Verzeihung, hieß sie als seine Gäste willkommen und versprach ihnen, für sie ein neues Haus bauen zu lassen.

Am nächsten Tag aber erzählte er seinen Kindern und Enkeln die wundersame Geschichte des Heiligen Sankt Martin und vom Mantel. Von Stund’ an wandelte sich sein Sinn, und bald war er über die Stadt hinaus als weiser und gerechter Mensch bekannt. Die Menschen trugen bunte Kleidung und man hörte endlich wieder das Spielen und Lachen der Kinder auf den Straßen der Stadt.

Als er nach drei Jahren friedlich starb, vermachte er all seine Reichtümer, die er noch nicht weggegeben hatte, den Armen und Kranken der Stadt. Der Mantel aber war leuchtend rot und ganz geworden. Seinen Enkeln hatte der alte Mann noch auf dem Sterbebett die letzten Geschichten vom Heiligen Martin erzählt.

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Kommentare (1)

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Großartig. Ich bewundere diese schriftstellerischen Fähigkeiten