Gedichte
Abendrot
Autor: Olaf Lüken
Feuerrot sinkt meine Sonne,
hinterm Meer, im Abendwind.
Eine Möwe auf ’ner Tonne,
mir ihr Lieblingslied vorsingt.
Milder Hauch der großen Bäume
und ein Mond am Himmel steht.
Natur zeigt ihre großen Räume,
mit einer Zeit, die schnell vergeht.
Sonne, Mond und ferne Sterne,
sind so nah, wie du zu mir.
Nähe kennt auch große Ferne.
Wie herrlich wär’ ein ehrlich WIR!
Sieh nur meine Tränentropfen,
die peu à peu verrinnen.
Tropfen, die ans Fenster klopfen.
Lasst jetzt uns neu beginnen!
© Olaf Lüken

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Gefühle
Autor: Kurt Tucholsky
Kennen Sie das Gefühl: „Déjà-vu“[1] –?
Sie gehen zum Beispiel morgens früh,
auf der Reise, in einem fremden Ort
von der kleinen Hotelterrasse fort,
wo die andern alle noch Zeitungen lesen.
Sie sind niemals in dem Dorf gewesen.
Da gackert ein Huhn, da steht eine Leiter,
und Sie fragen – denn Sie wissen nicht weiter –
eine Bauersfrau mit riesiger Schute[2] …
Und plötzlich ist Ihnen so zumute
– wie Erinnerung, die leise entschwebt –:
Das habe ich alles schon mal erlebt.
Kennen Sie das Hotelgefühl –?
Sie sitzen zu Hause. Das Zimmer ist kühl.
Der Tee ist warm. Die Reihen der Bücher
schimmern matt. Das sind Ihre Leinentücher,
Ihre Tassen, Ihre Kronen –
Sie wissen genau, dass Sie hier wohnen.
Da sind Ihre Kinder, Ihre Alte, die gute –
Und plötzlich ist Ihnen so fremd zumute:
Das gehört ja alles gar nicht mir …
Ich bin nur vorübergehend hier.
Kennen Sie … das ist schwer zu sagen.
Nicht das Hungergefühl. Nicht den leeren Magen.
Sie haben ja eben erst Frühstück gegessen.
Sie dürfen arbeiten, für die Interessen
des andern, um sich Brot zu kaufen
und wieder ins Büro zu laufen.
Hunger nicht.
Aber ein tiefes Hungern
nach allem, was schön ist: nicht immer so lungern –
auch einmal ausschlafen – reisen können –
sich auch einmal Überflüssiges gönnen.
Nicht immer nur Tag-für-Tag-Arbeiter,
ein bißchen mehr, ein bißchen weiter …
Sein Auskommen haben, jahraus, jahrein … ?
Es ist alles eine Nummer zu klein.
Hunger nach Farben, nach der Welt, die so weit –
Kurz: das Gefühl der Popligkeit.
Eine alte, ewig böse Geschichte.
Aber darüber macht man keine Gedichte.
[1]Déjà-vu → das Gefühl, eine neue Situation bereits erlebt zu haben, es aber eigentlich nicht sein kann, das man exakt das schon einmal erlebt hat → Erinnerungstäuschung (aus dem französischen)
[2]Schute → genähte hutartige Haube, die sich um 1800 aus der älteren Rokokohaube entwickelte und bis Mitte des 19. Jahrhunderts in modischen Abwandlungen getragen wurde.
Silentium!
Autor: Fjodor Iwanowitsch Tjuttschew
Schweige, verbirg dich und halte
deine Gefühle und Träume geheim,
laß sie in der Tiefe deiner Seele
lautlos auf- und untergehen
wie Sterne in der Nacht;
erfreue dich an ihnen – und schweige.
Wie soll das Herz sich offenbaren?
Wie soll ein anderer dich verstehen?
Begreift er, wodurch du lebst?
Ein ausgesprochener Gedanke ist eine Lüge.
Wenn du die Quellen aufwühlst, trübst du sie;
zehre von ihnen – und schweige.
Verstehe, nur in dir selbst zu leben:
es gibt in deiner Seele eine ganze Welt
geheimnisvoll-zauberhafter Gedanken;
sie betäubt der äußere Lärm,
die Strahlen des Tages vertreiben sie;
lausche ihrem Gesang – und schweige …

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Von Kindheit an lehrten sie uns
Autor: unbekannt
Von Kindheit an lehrten sie uns,
mit den neuen Errungenschaften der Technik umzugehen.
Unsere Gefühle zu definieren.
Uns auf das Team zu verlassen.
Rational sämtliche Probleme zu lösen.
Niemand sagte uns, daß man Tränen am besten trocknet,
indem man sie wegküßt,
dass der sicherste Weg, Angst loszuwerden,
das Durchleben der Angst ist,
daß die einzige Möglichkeit weiterzukommen
das Aufbrechen ist.
Wir lernten Fragen zu stellen.
Wir vergaßen nach Antworten zu suchen.