Sie hat doch gute Noten, Geschichte – Festgestaltung

Sie hat doch gute Noten

Autorin: Ginny le Fay

Sie ist vierzehn, ihr fünfzehnter steht kurz bevor. Sie ist Klassenbeste, hat immer alle Hausaufgaben. Sie ist immer glücklich, hat ein geordnetes Leben. Sie hat nicht sonderlich viele Freunde, aber man kann mit ihr klarkommen. Sie ist freundlich und gibt großzügig die Hausaufgaben ab, wenn sie danach gefragt wird. Man muss nicht bitte oder danke sagen, man nimmt es einfach. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. So rettet man sich vor einem Strich, einer Fünf, einer Sechs.

Wenn man etwas nicht versteht, fragt man sie. Sie erklärt es. Man kann sie ärgern, das macht ihr nichts, solange man es nicht zu regelmäßig macht. Denn sonst könnte sie die Hausaufgaben streichen, dann bekäme man eine Fünf, eine Sechs. Sie hat keine Probleme. Wenn man sie fragt „Wie geht es dir?“ so antwortet sie fast immer mit „Gut“. Wenn sie einen traurigen Eindruck macht und man fragt „Was ist denn los?“ so lächelt sie und antwortet „Ich bin nur müde.“ Dann ist man zufrieden, denn man muss nicht nachhaken oder großzügig Mitleid verstreuen, wie bei anderen Mädchen in ihrem Alter.

Wünschen wir uns nicht alle, ein so wunderbares Leben zu führen? Wünschen wir uns nicht alle, immer gute Noten zu haben und immer Klassenbeste zu sein? Wünschen wir uns nicht alle ein Leben ohne Probleme?

Sie ist ein glückliches Mädchen, das finden wir toll. Wir würden nicht verstehen, wenn es ihr schlecht ginge. Wenn man gute Noten hat, kann es einem nicht schlecht gehen, dann geht es einem gut und man hat keine Probleme.

Warum aber steht sie dann hier? Auf dem Dach, im Regen, rundum nass, frierend. Warum laufen ihr die Tränen über die Wangen? Warum geht sie nicht rein, in ihr warmes Zimmer, ihr geht es doch gut, sie hat doch keine Probleme, sie hat doch gute Noten.

Warum springt sie jetzt, einen zerknüllten Brief in der Faust?

Warum will sie so früh sterben?

Sie hat doch gute Noten.

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