Zeugnistag, Lied – Festgestaltung
Zeugnistag
Text und Melodie: Reinhard Mey, Veröffentlicht 1979, Video
Ich denke, ich muss so zwölf Jahre alt gewesen sein,
und wieder einmal war es Zeugnistag.
Nur diesmal, dacht’ ich, bricht das Schulhaus samt Dachgestühl ein,
als meines weiß und hässlich vor mir lag.
Dabei war’n meine Hoffnungen keineswegs hoch geschraubt.
Ich war ein fauler Hund und obendrein
höchst eigenwillig. Doch trotzdem hätte ich nie geglaubt,
so ein totaler Versager zu sein.
So, jetzt ist es passiert, dacht’ ich mir, jetzt ist alles aus,
nicht einmal eine 4 in Religion.
Oh Mann, mit diesem Zeugnis kommst du besser nicht nach Haus,
sondern allenfalls zur Fremdenlegion.
Ich zeigt’ es meinen Eltern nicht und unterschrieb für sie,
schön bunt, sah nicht schlecht aus, ohne zu prahl’n!
Ich war vielleicht ’ne Niete in Deutsch und Biologie.
Dafür konnt’ ich schon immer ganz gut mal’n!
Der Zauber kam natürlich schon am nächsten Morgen raus,
die Fälschung war wohl doch nicht so geschickt.
Der Rektor kam, holte mich schnaubend aus der Klasse raus.
So stand ich da, allein, stumm und geknickt.
Dann ließ er meine Eltern kommen, lehnte sich zurück,
voll Selbstgerechtigkeit genoss er schon
die Maulschellen für den Betrüger, das missrat’ne Stück,
diesen Urkundenfälscher, ihren Sohn.
Mein Vater nahm das Zeugnis in die Hand und sah mich an
und sagte ruhig: „Was mich anbetrifft,
so gibt es nicht die kleinste Spur eines Zweifels daran,
das ist tatsächlich meine Unterschrift.“
Auch meine Mutter sagte, ja, das sei ihr Namenszug.
Gekritzelt zwar, doch müsse man versteh’n,
dass sie vorher zwei große, schwere Einkaufstaschen trug.
Dann sagte sie: „Komm, Junge, lass uns geh’n.“
Ich hab’ noch manches langes Jahr auf Schulbänken verlor’n
und lernte widerspruchslos vor mich hin
Namen, Tabellen, Theorien von hinten und von vorn,
dass ich dabei nicht ganz verblödet bin!
Nur eine Lektion hat sich in den Jahr’n herausgesiebt,
die eine nur aus dem Haufen Ballast:
Wie gut es tut, zu wissen, dass dir jemand Zuflucht gibt,
ganz gleich, was du auch ausgefressen hast!
Ich weiß nicht, ob es Rechtens war, dass meine Eltern mich
da rausholten, und wo bleibt die Moral?
Die Schlauen diskutier’n, die Besserwisser streiten sich,
ich weiß es nicht, es ist mir auch egal.
Ich weiß nur eins, ich wünsche allen Kindern auf der Welt,
und nicht zuletzt natürlich dir, mein Kind,
wenns brenzlig wird, wenns schiefgeht, wenn die Welt zusammenfällt,
Eltern, die aus diesem Holze sind –
Eltern, die aus diesem Holz geschnitten sind!
Ihre Meinung zum Beitrag
Schreiben Sie einen Kommentar. Ihre Meinung ist uns und den Autoren wichtig! Schenken Sie Lesern des Artikels mit Ihrem Kommentar einen „Mehrwert“, indem Sie konstruktive Kritik äußern, Ihre Erfahrungen, Anregungen und Gedanken weitergeben oder weitere Informationen mitteilen.
Kommentar hinzufügen
Diese Richtlinie enthält Informationen zu Ihrer Privatsphäre. Mit dem Posten erklären Sie, dass Sie diese Richtlinie verstehen:
- Ihr Name, Ihre Bewertung, Ihre Website-Adresse, Ihre Stadt, Ihr Land, Ihr Bundesland/Kanton und Ihr Kommentar werden öffentlich angezeigt, soweit angegeben.
- Neben den von Ihnen agegeben Daten werden noch folgende Informationen verwendet:
- IP-Adresse (nicht angezeigt)
- Zeitpunkt des Eintrages (angezeigt)
- Ihre E-Mail Adresse wird nicht weitergegeben und nur für folgende interne Zwecke verwendet:
- Administrative Anforderungen und falls eine Kontaktaufnahme nötig sein sollte.
- Um Sie über neue Kommentare zu informieren, sollten Sie sich anmelden, um Benachrichtigungen zu erhalten.
- Ein Cookie kann auf Ihrem Computer gesetzt werden. Dies wird verwendet, um Ihre Eingaben zu speichern. Es wird von selbst ablaufen.
Diese Richtlinie kann jederzeit und ohne vorherige Ankündigung geändert werden.
Diese Nutzungsbedingungen enthalten Regeln zum Posten von Kommentaren. Indem Sie einen Kommentar abgeben, erklären Sie, dass Sie diesen Regeln zustimmen:
- Obwohl der Administrator versucht, Kommentare zu moderieren, ist es unmöglich, dass jeder Kommentar zu einem bestimmten Zeitpunkt moderiert wurde.
- Sie erkennen an, dass alle Kommentare die Ansichten und Meinungen des ursprünglichen Autors und nicht die des Betreibers dieser Seite enthalten.
- Sie erklären sich damit einverstanden, keine Materialien zu veröffentlichen, die wissentlich falsch, obszön, hasserfüllt, bedrohend, belästigend oder invasiv sind.
- Der Administrator hat das Recht, jeden Kommentar ohne Angabe von Gründen zu bearbeiten, zu verschieben oder zu entfernen.
Die Nichteinhaltung dieser Regeln kann dazu führen, dass weitere Kommentare abgelehnt werden.
Diese Allgemeinen Nutzungsbedingungen können jederzeit und ohne vorherige Ankündigung geändert werden.
Kommentare