Herbstgedichte von Rainer Maria Rilke

Herbstgedichte, Herbstlyrik, Herbstpoesie – von Rainer Maria Rilke

Herbstgedichte

Ende des Herbstes

Autor: Rainer Maria Rilke

Ich sehe seit einer Zeit,
wie alles sich verwandelt.
Etwas steht auf und handelt
und tötet und tut Leid.

Von Mal zu Mal sind all
die Gärten nicht dieselben;
von den gilbenden zu der gelben
langsamem Verfall:
wie war der Weg mir weit.

Jetzt bin ich bei den leeren
und schaue durch alle Alleen.
Fast bis zu den fernen Meeren
kann ich den ernsten schweren
verwehrenden Himmel sehn.

Verblühtes Löwenzahn
Verblühtes Löwenzahn
Bild von Peggychoucair auf Pixabay

Herbst

Autor: Rainer Maria Rilke

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Rote Eichenblätter im Herbst
Rote Eichenblätter im Herbst
Bild von Annette Meyer auf Pixabay

Herbstabend

Autor: Rainer Maria Rilke

Wind aus dem Mond,
plötzlich ergriffene Bäume
und ein tastend fallendes Blatt.
Durch die Zwischenräume
der schwachen Laternen
drängt die schwarze Landschaft der Fernen
in die unentschlossene Stadt.

Welkes Blatt an einem Baum
Welkes Blatt an einem Baum
Bild von Kaffeesüchtig auf Pixabay

Herbststimmung

Autor: Rainer Maria Rilke

Die Luft ist lau, wie in dem Sterbezimmer,
an dessen Türe schon der Tod steht still;
auf nassen Dächern liegt ein blasser Schimmer,
wie der der Kerze, die verlöschen will.

Das Regenwasser röchelt in den Rinnen,
der matte Wind hält Blätterleichenschau; –
und wie ein Schwarm gescheuchter Bekassinen
ziehn bang die kleinen Wolken durch das Grau.

Herbstlaub auf Heidekraut
Herbstlaub auf Heidekraut
Bild von Mariya Muschard auf Pixabay

Herbsttag

Autor: Rainer Maria Rilke

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Blätter im Herbst
Blätter im Herbst
Bild von Ирина Ирина auf Pixabay